Angie fiel in Lucinea’s Körper, als ob es ein zu enges Gefäß gewesen wäre, wo die Seele kaum Platz hatte hineinzupassen. Sie wachte vor dem Eingangstorbogen im Nebel auf. Es war wie beim ersten Mal keine freiwillige Reise gewesen. Irgendetwas oder jemand hatte sie hierhin gezogen. Eher gezwungen.
Angie hatte bewusst die letzten Jahre diesen Ort gemieden. Zu unheimlich war es geworden, als die Traumwelt auch in die reale Welt der Erde gewirkt hatte. Mit 34 Jahren verließ Angie die Traumwelt von Zerma, weil sie jeglichen Kontakt zu dieser Welt trennen wollte. Amandar war als Lichtwesen in ihre Tagträume gekrochen, belästigte sie ständig mit irgendwelchen Visionen, sodass Angie entschied, allem Magischem abzuschwören und zu verdrängen.
Lucinea tappelte unbeholfen gen Tor, klopfte dreimal, damit es sich öffnete und schnaubte gereizt ein paar Atemzüge die Gegenwehr herunter. Die Wiese lag wie damals vor ihr. Ein bisschen Vorfreude mischte sich ins Gefühlswirrwarr, als sie über die Schwelle schritt. Eine kleine graue Kugel aus Schleiernebel schnellte vom Himmel auf Lucinea zu und heraus ploppte eine begeisterte schwarzgeflügelte junge Dame in blutroten Schuppen-Bikini.
„Luci, Luci, Luuuciiii!!! Meine süße Maus!“, knutschte die leichtbekleidete Frau Lucinea zur Begrüßung im wilden Umschlingungen zu Boden. „Aaawwww, hab ich dich vermisst, mein Herz! Warum durfte ich dich nicht besuchen? Was machst du hier?“, beäugte das Wesen neugierig die überrumpelte und nach Luft ringende Lucinea. „Sag schon! War das Amandar??? Wenn ich den in die Krallen kriege, da fliegen erstmal die Federn! Als Dank, dass du wieder da bist und als Strafe, dass er dich ärgert!“
Lucinea musste lachen: „Hab dich auch vermisst, Lucrémeril“, täschelte sie den schwarzen Haarschopf. Lucrémeril kuschelte sich stürmisch wie eine nach Nähe gierende Katze an den zierlichen Körper ran, die ihren Duft an Lucinea’s Armen und Beinen reiben wollte: „Sag es nochmal! Aus deinem Mund klingt mein Name wie süßer Honigwein!“,schnurrte Lucrémeril glücklich.
„Merilllll, genug jetzt!“, kicherte Lucinea verlegen und versuchte die anhängliche kleine Dämonin von sich zu drücken. „Okeoke, bin ja wieder brav“, kniete Meril vor ihrer Meisterin. „Hab doch sooo Hunger. Nur ein bisschen. Büüüütte?!“, bettelte sie mit kugelrunden Augen. Lucinea schüttelte seufzend den Kopf: „Na gut, weil du so ein liebes Biest bist, dieses eine Mal!“
Ihre Wangen wurden rot und durch die Handflächen strömte eine wabernde violett schimmernde Flamme in Merils Kopfhaut, auf die Lucinea ihre Hand hielt. „Kleines Schleckermäulchen“, flüsterte Lucinea sanft. Meril leckte sich die Lippen und summte leise: „Mmhhhh, köööstlich! Wow, du hast ganz schön was erlebt. So viele Gefühle. Mag all deine belastenden Emotionen für dich naschen! Die sind so unglaublich kraftvoll!“
„Na-Na-Na, ich brauche sie auch noch! Aber sind ja reichlich vorhanden. Du wirst schon satt… danke, es geht mir ein wenig besser. Das sollte fürs Erste genügen.“ Lucinea löste sich von Meril’s gierigen Fängen und sie zogen sich gemeinsam auf die Beine. Weniger gequält blickte Lucinea nun zum Tempelhof. „Schade, dass du nicht mitkommen kannst, Meril“, senkte Luci ihr Kinn. Meril kicherte und flüsterte in Luci’s Ohr: “ Ich kann mich ja in deinen Schatten verstecken. Was hälst du davon? Es ist ja schließlich DEIN heiliger Ort, nicht seiner.“
Lucinea nickte aufatmend. „Aber lass deine Fangzähne und Krallen bei dir!“ Meril kreuzte Zeige-&Ringfinger, löste sich in Rauch auf und verschwand in Lucinea’s Schatten. „Du bist fies!“, hörte sie Meril’s Stimme in ihrem Kopf zedern. „Mir läuft das Wasser in Bächen im Mund zusammen. Bin ausgedörrt.“ Ein schmatzendes Geräusch zog Luci eine dicke Gänsehaut durch den Körper. „Sei still oder ich werf‘ dich wieder raus, du Molch!“ Luci hörte förmlich das Naserümpfen, aber nun war es still.
‚Gut. Dann mal in die Höhle der Gleichgültigkeit‘, dachte Luci. In Gedanken konnten sich die Beiden unterhalten, aber auch Amandar würde es hören. ‚Du musst ruhig sein, Meril. Schaffst du das?‘ Der kleine Schatten quietschte leidig: ‚Wenn ich bei dir bin, kann er mir doch nichts anhabnnnn. Lass ihn doch. Er ist doof und bleibt doof und wird immer doof sein! Soll er doch motzen, hihihi!“ Meril’s Kichern klang ein wenig zu rachsüchtig.
‚Was hat er in meiner Abwesenheit getan, dass du ihn dermaßen necken willst?‘. Eine kurze Pause erhöhte die Dramatik: ‚Ich muss immer hinter ihm aufräumen. Wir haben echt die Faxen dicke! Ups! Neineinein! Vergiss das wieder. Hab nix gesagt.‘ Luci fiel die Kinnlade runter: „Wie bitte? Was hast du gesagt?“ Meril versuchte abzulenken: ‚Faxen machen, ja, ei, du kennst ja Amandar. Der lässt jeden für dich über die Klinge springen, haha.‘
‚Meril, halt die Schnute!‘, mahnte Luci mit düsterer Gedankenstimme, als sie vor der Mauer standen und Saskat auf sie zu walzte. Saskat verbeugte sich ehrerbietend: „Meine He…, ehm, Lucinea! Willkommen zurück. Bleib nicht hier und warte auf deine Antwort. Es lauern überall Gefahren in diesen Tagen.“ Er zeigte schweigend auf den Torbogen. In seiner Verbeugung bleibend wiederholte Saskat solange die Bewegung, bis Lucinea stammelnd weiterging. „Was…wa…was geht hier vor?“
Flüche und fremde Sprachen hallten im kriechenden Nebel, der von der rechten Waldseite die Wiese mit einem feuchten Netz aus Tau bedeckte. Seltsam lebendig schienen die schleichenden Schatten zu sein, die sich im Nebel verborgen umhertrieben. Ein Unbehagen erfüllte Lucinea’s Herz. Sie war erleichtert, durch das Tor gehen zu können. Saskat war ein fähiger Wächter, hoffte sie. Es war nicht die erste Begegnung mit diesen Schatten.
Eine Kuppel bildete sich über den Tempelhof und dem Garten als schützender Wall. Auch Saskat schien im Schutzkreis vor allem in Sicherheit zu sein. „Deine Aura ist stark, meine Liebe. Diese Bedrohung aber ist sehr ernst.“ Lucinea drehte sich um. Amandar stand unscheinbar an einem Rosenbusch, weiß gekleidet und blickte Lucinea nun an. „Silber ist eine seltene Farbenpracht. Sie spiegelt alle Farben. Nur deshalb steht die Mauer noch. Sie haben noch keinen Angriff gefunden, dem deine Aura nicht stand hält.“
„Deshalb hast du mich gerufen?“, stellte Lucinea die sich selbst beantwortende Frage. Amandar nickte und streckte seinen Arm aus, um Lucinea mitzunehmen. „Ich kann selbst gehen, vielen Dank. Schließlich ist das hier MEIN heiliger Ort und du der Hüter, nicht der Besitzer“, schnalzte Luci schnibbisch. Amandar schmunzelte: „Dein Groll wird uns noch unseren Vorteil kosten. Ich entschuldige mich nicht für das, was damals geschah. Es war notwendig und du hast es nicht verstanden, was ich dir damit vermitteln wollte.“
„Ich bin deswegen fast im die Klapse geschickt worden, also bitte tu uns beiden einen Gefallen und halte dich mit deinen Äußerungen zurück. Sag mir, was ich wissen muss oder wo ich es finde und ich entscheide dann für mich, wie es weitergeht“, blusterte Luci sich grantig mit verschränkten Armen auf . „Nun gut, wie Ihr wünscht. Bitte folgt mir“, wurde Amandar förmlich und stieg die Treppen zur Relieftür des Tempels hoch.
Figuren kämpften aufgeregt im Stein. Das ganze Relief bewegte sich hitzig und ächzte unter dem Tumult. Lucineas Verwirrung schien keine Ende zu nehmen: „Wie ist das möglich?“ Amandar zuckte mit den Schultern: „Etwas versucht den Lauf deines Lebens zu verändern, wie es scheint. Anders kann ich es mir nicht erklären. Das sind deine Oneiren, die dich beschützen.“ Lucinea’s Augen fixierten die winzigen Kreaturen, die gerade vor ihren Augen als Steinfiguren gegen Nebelgestalten kämpften.
„Oneiren oder Daimonen sind Träume oder Kinder der Nacht „Nyx“. „Wow, jetzt fängst du auch noch mit Mythologie an“, tönte ihre Stimme abwesend. „Was kommt als nächstes? Slawische Werwölfe und keltische Wassernixen?“ Amandar wurde ernster: „Die Welt ist voller Schöpfung. Du hast es selbst erlebt. In manchen Erzählungen steckt auch eine Funke Wahrheit. Du kannst dir aussuchen, welchen Namen du dem gibst, ob aus keltischer, christlicher, indigenen oder anderer religiösen Sicht. Egal, deine Wahl.“
„Es ist schon verstörend genug, dass die Erde ‚Die gefallene Welt‘ sein soll. Also halt mich bitte nicht damit auf.“ Weiter führte Amandar seine Ansprache fort: “ Es stehen dir Mentoren in deinen Träumen zur Seite, die dir alles Weitere erklären werden. Gebe mir bitte die Chance, meine Glaubwürdigkeit wieder zu erlangen, auch gegenüber deinem Schatten.“
„Verräter! Du elender Jedi!“, zischte Meril aus der Deckung. „Beeindruckend, wie lange doch kein einziges Fluchen dir entflohen ist, werte Lucrémeril“, flachste Amandar amüsiert. „Es reicht!“, stieß Lucinea dazwischen. Genug Informationen. Ich will jetzt wieder zurück. Zwinge mich nie wieder Amandar! Bei Gelegenheit kehre ich wieder zurück, wenn ICH es für richtig halte. Bis dahin darf Meril mich besuchen. Du kannst ihr ja sagen, wenn du was hast. DICH werde ich nicht dulden, verstehst du das jetzt?“
Amandar beugte sich demütig: „Natürlich, kleiner Schmetterling. Alles, was du willst…“. Mürrisch drehte sich Lucinea um: „Dann ist ja alles geklärt. Auf bald! Komm, wir gehen Meril. Ich bin müde.“ Ein Kichern war leise zu hören: „Ja, meine Süße. Dem hast du es aber jetzt richtig gegeben. Danke, dass du an mich glaubst!“ Die beiden verschwanden im Nebelschwaden und versanken in einem tiefen Schlaf.
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